Drei Jahre und einen Tag
Sie tragen weite Schlaghosen, kragenlose weiße Hemden, große schwarze Hüte und reisen quer durch die Republik oder auch durch Europa und die ganze Welt: Wandergesellen, junge Männer aber auch Frauen, die ihre Ausbildung in einem Handwerk abgeschlossen haben und nun in den unterschiedlichsten Betrieben Berufserfahrung sammeln wollen.
Seit dem Beginn der frühen Neuzeit war die Wanderpflicht der Gesellen von den Zünften in den jeweiligen Wanderordnungen festgeschrieben. Diese hatte zu einen den Wissens- und Technologietransfer zum Ziel, diente andererseits aber auch als Steuerungsinstrument für den Arbeitsmarkt: Der ausbildende Meister schickte den Gesellen, wenn er ihm nichts mehr beibringen konnte, vom Hof damit dieser ihm nicht die Arbeit wegnimmt. Andererseits eröffnete die Wanderpflicht den Gesellen die Chance, einen Arbeitsplatz zu suchen, eine Familie zu gründen und sesshaft zu werden.
Derzeit sind rund 500 bis 600 Gesellen auf traditionelle Weise unterwegs. Zu einem großen Teil handelt es sich bei ihnen im Zimmerleute, aber auch Gesellen anderer Gewerke (zum Beispiel Betonbauer, Schmiede, Steinmetze, Holzbildhauer, Instrumentenbauer, Goldschmiede oder Bäcker) können auf Wanderschaft gehen.
Zwei von ihnen – Sönke (23) und Felix (21) – hatten in den vergangenen Monaten bei der Zimmerei Gebhard in Feucht gearbeitet. Bevor sie weiterzogen, haben wir uns mit ihnen getroffen und über ihr Leben „auf der Walz“ gesprochen.
Was bedeutet es eigentlich auf Wanderschaft zu sein?
Wir gehören zu den „rechtschaffend Fremden“, der ersten von mehreren verschiedenen „Schächten“, in denen sich Wandergesellen zusammengeschlossen haben. Wir sind auf unserer „zünftigen Tippelei“ mindestens drei Jahre und einen Tag unterwegs. Nach oben hin gibt es keine Begrenzung. Das heißt, man kann auch zehn Jahre auf Wanderschaft gehen, aber mindestens eben drei Jahre und einen Tag.
Wie kommt es zu diesem Zeitraum, vor allem warum der eine zusätzliche Tag?
Generell soll die Wanderschaft länger sein als drei Jahre, also länger als die Lehre. Die Wanderschaft ist ja so etwas wie die zweite Lehrzeit. Da die Wanderzeit mehr das Leben bestimmt als die eigentliche Lehre, soll sie eben auch länger sein, daher der eine Tag.
Außerdem haben wir einen Bannkreis von 50 Kilometer Luftlinie rund um unseren Wohnort, den wir während unserer Walz nicht betreten dürfen. Das heißt wir brauchen schon mal einen Tag, um aus diesem Bannkreis herauszukommen, und dann beginnt die Wanderschaft eigentlich erst so richtig. Der eine Tag kann aber auch daher kommen, dass du vom ersten Tag sowieso nichts mitbekommst, da du so nervös und besoffen bist. (lacht)
Ihr habt jetzt schon mal den Bannkreis angesprochen. Welche Bedingungen müsst ihr denn noch erfüllen, welche Auflagen befolgen, wenn ihr auf Tippelei seid?
Neben diesem Bannkreis gibt es noch weitere Regeln, damit du überhaupt auf Tippelei oder Walz gehen darfst. Man muss unter 30 sein, man darf nicht verheiratet sein, man darf keine Kinder haben, man muss einen Gesellenbrief haben, man darf keine Schulden haben und man darf nicht vorbestraft sein.
Ein polizeiliches Führungszeugnis in dem Sinn muss man nicht vorzeigen, aber jemanden, der regelmäßig klaut, können wir bei uns nicht gebrauchen. Wir leben ja schließlich von unserem guten Ruf. Wenn wir einen schlechten Ruf haben, dann schlafen wir draußen. Wenn wir einen guten Ruf haben und kommen in eine Stadt oder in ein Dorf rein, dann kommen wir schnell ins Gespräch, trinken mit den Leuten drei, vier Bierchen und können dann zum Beispiel bei einem Bauern in der Scheune übernachten.
Dürftet ihr euch denn keine Pension nehmen?
Theoretisch dürften wir das schon, aber es ist verpönt. Was heißt verpönt, wir machen‘s halt einfach nicht. Wenn man auf Wanderung ist, versucht man für Unterkunft und Fortbringung kein Geld zu bezahlen. Aus diesem Grund laufen und trampen wir auch und kaufen uns kein Busticket, um schnell mal in einem Tag von Kiel nach Freiburg zu kommen.
Was war für euch der Grund, auf die Walz zu gehen?
(Sönke) Bei mir war es tatsächlich so, dass schon mein verstorbener Opa auf Wanderschaft gewesen ist. Ich habe ihn leider kaum kennengelernt, aber ich fand die Idee megacool. Als ich dann ausgelernt hatte – ich hab‘ den Beruf des Zimmerers gelernt, da ich gerne mit Holz arbeite – wollte ich einfach mal weg von zuhause, die Freiheit genießen und auch neue Techniken und Praktiken für die Arbeit kennenlernen.
(Felix) Ich hab‘ gedacht, ich brauch‘ ein Abenteuer in meinem Leben, einfach mal aus dem eingefahrenen Trott herauskommen. Und warum soll man dann nicht den Beruf, den man liebt, mit dem Reisen verbinden und gleichzeitig die Tradition am Leben erhalten?
Hat man da auch mal Heimweh?
Klar das kommt vor. Erst vor kurzem war ja hier ein kräftiger Sturm und da bin ich auf den Balkon hinaus und hörte so die Bäume rauschen. Ich komm‘ von der Küste und da ist es normal, dass es mal ein bisschen mehr Wind gibt – aber in diesem Moment dacht‘ ich dann schon, dass es schön wäre, mal wieder am Deich zu sitzen und aufs Meer zu gucken.
Wie lange bleibt ihr auf eurer Wanderschaft eigentlich an einem Ort?
Wenn wir in einer Stadt arbeiten, dann dürfen wir uns ein halbes Jahr lang dort im Umkreis aufhalten. Haben wir keine Arbeit, dürfen wir nur sechs Nächte an einem Ort bleiben, bevor wir weiterziehen müssen.
Und dann heißt es Abschied nehmen.
Das ist jetzt hier unsere letzte Woche, dann ziehen wir wieder weiter. Ich war fast sechs Monate hier und das ist dann schon ein verdammt harter Abschied. Viele Leute wachsen einem ans Herz und man wächst auch vielen Leuten ans Herz, hoffe ich jetzt mal. (lacht)
Hält man dann trotzdem noch Kontakt?
Ja klar, hält man Kontakt. Aber man hat ja kein Handy oder keine sozialen Netzwerke auf der Wanderschaft, das ist uns verwehrt. Und so kann man sich eben nur alle drei, vier Wochen mal eine Mail schreiben, wenn man an einem Internetcafé vorbeikommt, oder mal die Eltern anrufen: „Hallo, ich leb‘ noch!“. Manchmal besucht man sich dann auch mal wieder, wenn man ein Jahr später wieder in einem Ort vorbeikommt, wo man vorher schon mal war.
Ich hab‘ jetzt hier auch eine Freundin, bei der ich die letzten Monate gelebt habe. Man ist ja da auch schön zusammengewachsen. Da ist es natürlich besonders schwer weiterzuziehen. Sie trifft das schwer, mich trifft das schwer. Wir haben dann quasi eine Fernbeziehung, bei der man sich alle zwei, drei Monate für eine Woche oder ein Wochenende sieht. Dazwischen können wir nicht telefonieren, können uns nicht über WhatsApp schreiben. Das ist schon schwierig. Ob es funktioniert, sieht man dann spätestens, wenn ich nachhause komme.
Apropos „nachhause“: Wie ist das denn, wenn die Tippelei zu Ende ist?
Wenn man nachhause geht, dann trifft man sich eine Woche vorher mit anderen Wandergesellen, die einen dann die letzten Kilometer in den Bannkreis hinein bis zum Ortsschild begleiten. Damit der Wandergeselle nicht allein nachhause gehen muss, aber auch damit er es sich nicht noch einmal anders überlegt. Denn das Nachhausegehen ist tatsächlich schwerer als das Losgehen. Wenn du losgehst, dann springst du auf einen Zug auf und dann fährt er einfach. Du hast so viele Eindrücke und Erlebnisse und du bist einfach frei. Es gibt keinen, der dir sagt: „Das darfst du nicht machen!”. Wieder anzukommen, seine Sachen in die Ecke zu stellen uns zu sagen „So, ich bleib jetzt hier auf immer!“ – das ist viel schwieriger.
Aber der Zusammenhalt bleibt weiter bestehen.
Nach der Tippelei bleibt man natürlich auch weiterhin in seinem „Schacht“. Die „Einheimischen“ (so werden die Wandergesellen nach ihrer Walz genannt) treffen sich alle paar Wochen auf ihren „Krug“ wo sie Geschichten erzählen und ein Bierchen zusammen trinken, wo aber auch Wandergesellen auf ihrer Walz vorbeikommen.
In jeder größeren Stadt gibt es eine bestimmte Kneipe oder Wirtschaft, in der wir einen eigenen Raum haben, hier in Nürnberger ist das zum Beispiel das Landbierparadies in der Sterzinger Straße.